© Uwe Hentschel

Schmerzforscherin Katharina Rischer (links) und Medienpsychologin Elisabeth Holl demonstrieren den Versuchsablauf

Während die Teilnehmerin die neue Umgebung erforscht, steigt die Temperatur zügig an. Die Studentin bekommt davon wenig mit, denn sie ist im wahrsten Sinne des Wortes in eine andere Welt eingetaucht. Mit Hilfe einer VR-Brille erkundet sie die Unterwasserwelt des Computerspiels Subnautica. Die Thermode an ihrer linken Wade wird immer heißer: 45 Grad, 46, 47, 48…und dann spürt sie es. Mit ihrem rechten Fuß tritt sie auf ein Pedal und in Sekundenschnelle sinkt die Temperatur der Thermode wieder auf angenehme 32 Grad. Unter normalen Bedingungen hätte die Probandin den Temperaturanstieg wahrscheinlich schon früher wahrgenommen und beendet. Doch sie war abgelenkt.

Ablenkung kann dabei helfen, unangenehme Situationen besser zu ertragen. Und je größer die Ablenkung ist, desto stärker scheint die Wirkung zu sein. Was beispielsweise auch der Grund ist, warum eine Forschergruppe aus Seattle bei Patientinnen und Patienten mit großflächigen Brandnarben gezielt Virtual Reality einsetzt. Damit soll ein Stück weit von den extremen Schmerzen abgelenkt werden, zu denen es bei der regelmäßigen Behandlung der betroffenen Hautflächen kommt. Mit Hilfe der VR werden die Patientinnen und Patienten in eine Welt aus Eis und Schnee versetzt. Das macht die Behandlung erträglicher.

Unter drei unterschiedlichen Bedingungen getestet

Für Medienpsychologin Elisabeth Holl und Schmerzforscherin Katharina Rischer war dieses Forschungsprojekt aus den USA die Grundinspiration für eine eigene Studie. Bei dieser sind sie gemeinsam mit zwei weiteren Kolleginnen der Uni Luxemburg der Frage nachgegangen, ob sich die Schmerztoleranz durch den Einsatz von VR tatsächlich beeinflussen lässt und inwieweit dabei auch eine Differenzierung möglich ist. „Wir wollten herausfinden, ob sich durch eine etwas anstrengendere oder kompliziertere virtuelle Umgebung dieser Effekt verstärken lässt“, sagt Holl.

Die Teilnehmenden ihrer Studie wurden deshalb nicht nur mit eine VR-Brille auf dem Kopf und einer immer wärmer werdenden Thermode an der Wade ausgestattet, sondern zudem auch mit drei unterschiedlichen Settings konfrontiert. So haben sie bei einer der Bedingungen einfach nur dagesessen und auf eine virtuelle Wasseroberfläche geschaut – insgesamt also eine eher entspannende Situation. In den beiden anderen VR-Bedingungen hingegen waren die Teilnehmenden unter Wasser, sind entweder nur durch das Wasser getaucht oder mussten sich dabei zusätzlich noch Zahlen merken, die im Wasser auf kleinen Bojen auftauchten.

Es kommt auf das Setting und den Nutzer an

„Wir hatten ursprünglich angenommen, dass die Teilnehmenden unter der anspruchsvollsten der drei Bedingungen eine höhere Schmerzschwelle haben als unter den beiden anderen Bedingungen“, sagt Schmerzforscherin Rischer. Und dieser Effekt sei dann auch tatsächlich bei der Hälfte der Probanden festgestellt worden. „Bei weiteren Analysen haben wir dann gesehen, dass auch Aspekte wie Stress oder Angst einen Einfluss hatten“, erklärt sie. So mussten die Teilnehmenden im Vorfeld der Studie einen Fragebogen ausfüllen, mit dem unter anderem der Stresszustand gemessen werden sollte. Darüber hinaus wurden während der Studie auch physiologische Daten wie Hautleitfähigkeit und Herzschlag erfasst. „Leute, die eher gestresst waren, zeigten einen höheren Schwellenwert bei der einfachen Bedingung“, sagt Rischer. Sie vermutet, dass das damit zusammenhängt, dass gestresste Leute bei dem eher entspannenden Setting besser abschalten können.

„Wir haben bei unserem Test viel Wert auf ein eher entspanntes Setting gelegt, damit auch Teilnehmer ohne Videospiel-Erfahrung gut damit zurechtkommen“, sagt Holl. „Bei einem actionreichen Shooter oder einem komplexen Competition Game wird vom Spieler deutlich mehr gefordert, weshalb der Ablenkungseffekt dort sicher noch größer ist“, so die Medienpsychologin. Allerdings zeigten entsprechende Studien bei Videospielen, dass es dabei sehr auf das Individuum ankomme. „Jemand ohne Videospiel-Erfahrung ist mit der Situation vielleicht eher überfordert und deshalb auch gestresst, während ein professioneller E-Sportler vom Setting womöglich eher gelangweilt ist und deshalb genauso viel Schmerz empfindet wie ohne VR-Brille“, so die Medienforscherin.

101 Menschen haben an der Studie teilgenommen, von denen aber auch ein paar wenige mit der virtuellen Situation überfordert waren. „Wir mussten es zum Beispiel bei vier Teilnehmenden abbrechen, weil sie an Motion Sickness litten“, sagt Rischer. Gemeint ist damit ist ein Zustand, in dem eine Unstimmigkeit zwischen visuell wahrgenommener Bewegung und dem Bewegungssinn des Gleichgewichtssystems besteht. „So etwas kommt gerade bei unerfahrenen Spielern öfter vor“, erklärt sie.

ADHS könnte den Effekt dämpfen

Gerne hätte das interdisziplinäre Forschungsteam auch noch untersucht, inwieweit der Ablenkungseffekt bei Menschen mit ADHS abgeschwächt wird. Die These: mehr Probleme haben sich ausschließlich auf die kognitiven Anforderungen zu konzentrieren und eher von dem Temperaturanstieg an der Wade ablenken lassen und dieser mehr Aufmerksamkeit schenken. Da an der Studie aber hauptsächlich Studierende teilgenommen hätten, habe es bezüglich ADHS keine große Varianz gegeben, erklärt Holl.

„Sinnvoll wäre in diesem Zusammenhang, eine Studie gezielt auch mit Probanden zu machen, bei denen ADHS schon diagnostiziert wurde“, sagt sie. Was auch allein schon deshalb interessant wäre, weil die Studien zu ADHS und Videospielen sehr gegenläufig seien, wie die Forscherin ergänzt. „Auf der einen Seite würde man ja erwarten, dass Kinder mit ADHS aufgrund ihrer geringeren Aufmerksamkeitsspanne vielleicht weniger von dem Ablenkungseffekt profitieren und deswegen den Schmerz mehr wahrnehmen“, so Holl. „Auf der anderen Seite gibt es aber auch Studien, die zeigen, dass gerade Kinder mit ADHS oft in Videospielen versinken und dort viel fokussierter sind als zum Beispiel in der Schule.“

Autor: Uwe Hentschel

Foto: Uwe Hentschel

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