© Uwe Hentschel

Bildungswissenschaftler Andreas Hadjar hat gemeinsam mit Kollegen Schüler im Rahmen der SASAL-Studie befragt

„Meine Klasse ist cool“, „Ich freue mich, Teil meiner Klasse zu sein“, „Ich fühle mich nicht wohl, wenn Lehrerinnen und Lehrer mich ansprechen“ oder aber „In meiner Klasse fühle ich mich wie jemand, der hier nicht hinpasst“. Das sind nur einige der Aussagen, zu denen Schüler angeben mussten, inwieweit das auf ihre eigene Situation zutrifft. Bildungswissenschaftler Andreas Hadjar von der Uni Luxemburg hat dazu gemeinsam mit Forschungskollegen seiner Fakultät sowie einem Team um seine Kollegin Tina Hascher aus der Schweiz über einen Zeitraum von drei Jahren Schüler und Schülerinnen der Grundschule (cycle 3.2 bis cycle 4.2, zirka  10. bis 12. Lebensjahr) und der Sekundarschule (7e-9e, zirka 13. Bis 15. Lebensjahr)  im Rahmen der SASAL-Studie befragt. SASAL steht dabei für „School Alienation in Switzerland and Luxembourg“. Bei dem Projekt ging es darum herauszufinden, wie und warum Schulentfremdung bei Jugendlichen entsteht, und wie man sie also verhindern könnte.    

Andreas, Ihr befasst Euch mit Schulentfremdung. Was genau ist damit gemeint?

Es gibt unterschiedliche Definitionen. Wir definieren Schulentfremdung im Rahmen unseres Projekts als negative Einstellungen gegenüber der Schule, die im Lauf der Schulzeit entstehen beziehungsweise sich verstärken können. Die Gründe beim Prozess der Schulentfremdung sind vielfältig, wobei sich die bisherige Forschung vor allem mit der Individualebene, also dem einzelnen Schüler, und weniger mit der Klassenebene befasst hat. Wir haben uns bei der Schulentfremdung und den Konsequenzen auf drei Ebenen konzentriert: auf die Individualebene, auf die Klassenebene und auf die Schulebene.

Gibt es zwischen den unterschiedlichen Ebenen Zusammenhänge oder vielleicht auch Wechselwirkungen?

Die Entfremdung von Lehrpersonen und vom Lernen allgemein hängen vielfach zusammen. Eine Entfremdung von Klassenkameraden ist damit aber oft nicht verbunden. Gerade bei Jungs, die auf Konfrontation mit den Lehrern und der Schule gehen und keine Lust aufs Lernen haben, ist es oft so, dass diese aber nicht von ihren Klassenkameraden entfremdet sind. Was auch damit zusammenhängt, dass die Freundesgruppen von Jungen die Schule tendenziell eher ablehnen als die von Mädchen. Es kommt sogar oft zu einer Art von Spirale, bei der sich Schüler gegenüber der Schule besonders distanziert zeigen, damit sie von den Mitschülern akzeptiert werden. An solchen Unterschieden in den Gründen und Ausprägungen der Entfremdung vom Lernen, von Lehrern und von Mitschülern sieht man, dass Entfremdung eben nicht ein-, sondern mehrdimensional zu sehen ist.

Welche anderen Umstände führen dazu, dass sich Schüler von der Schule distanzieren? Und wie lässt es sich verhindern?

Wir konnten mit unserer Studie zeigen, dass ein autoritativer Lehrstil – nicht zu verwechseln mit autoritär – einen sehr guten Einfluss hat. Und das vor allem bei Jungen. Mit autoritativ ist gemeint, dass sich die Lehrer für die Schüler interessieren, ein positives Verhältnis zu ihren Schülern anstreben, ihnen aber auch viel Unterstützung geben.

Gründe finden sich aber nicht nur in den oben bereits erwähnten Freundesgruppen, sondern auch im Elternhaus. Kinder bringen sicher einen Teil der negativen Haltung gegenüber Schule von zu Hause mit. Speziell für Luxemburg zeigt sich eine Tendenz, dass es insgesamt eine eher kritische Einstellung zum Schulsystem gibt, und deshalb auch in höheren Schulformen (wie dem Lycée Classique in Luxemburg) eher zur Entfremdung führt. In der Schweiz hingegen zeigt sich der erwartete Befund, dass diese bei Kindern aus bildungsnahen Familien im vergleichbaren gymnasialen Schulniveau eher geringer ist.

Die Tendenz zur Entfremdung ist also abhängig von der Schulform?

Gerade das ist ein Aspekt, der uns in unserer Luxemburger Studie sehr überrascht hat. Wir hätten im Vorfeld erwartet, dass die Schulentfremdung besonders hoch ist in Klassen mit geringem schulischen Anspruchsniveau. Also vor allem auch dort, wo verschiedene Gruppen aus sogenannten bildungsfernen Bereichen zusammenkommen, wie hier in Luxemburg beim Modulaire. Wir haben dann in unserer Studie aber festgestellt, dass das zumindest in unserer Studie nicht so ist. Das kommt wahrscheinlich daher, dass beim Modulaire die Leistungsansprüche eher gering sind und dass hier sehr viel gemacht wird, um das Wohlbefinden der Schüler zu fördern.

Das sieht man auch beim Vergleich der Klassenräume. Diese sind im Modulaire oft heimeliger und eben nicht so neutral wie in den anderen, höheren Sekundarschulzweigen, was sich ebenfalls positiv auf die Akzeptanz der Schule auswirkt. Aber das bedeutet natürlich nicht, dass dadurch die Leistungen auch besser sind. Es gibt zwar einen Zusammenhang zwischen Schulentfremdung und Leistung, der aber ist beim Modulaire aber nicht so stark ausgeprägt.

Inwieweit spielen in Luxemburg die Sprachen beziehungsweise die Sprachbarrieren eine Rolle?

Wir haben festgestellt, dass es doch eher die soziale Herkunft als die Sprache ist, die einen Einfluss hat. Was wir aber sehen: Sind viele Migranten in einer Klasse, ist die Entfremdung gegenüber Lehrpersonen tendenziell größer, die Entfremdung von Mitschülern aber gleichzeitig oft geringer. Was speziell in Luxemburg damit zusammenhängen kann, dass beispielsweise Schüler mit portugiesischen Wurzeln, die hier vielleicht schon in der zweiten oder dritten Generation leben, in den Schulen meist auf ein sehr stark luxemburgisch geprägtes Lehrpersonal treffen. Ich denke aber, dass sich hier in den vergangenen Jahren schon viel getan hat.

Welche Rolle spielen die Noten? Führen schlechte Noten zu einer Entfremdung oder ist es eher umgekehrt?

Unsere Befunde weisen in die Richtung, dass Entfremdung die Noten senkt. Entfremdung findet ja erst mal im Kopf statt, bedeutet aber gleichzeitig, dass ich mich auf der Verhaltensebene weniger einsetze und auf der anderen Seite mehr deviantes Verhalten (Abweichungen von der Norm wie „Unterricht stören“, „gewalttätiger Umgang“) in der Schule zeige. Und letzteres führt dann einerseits zu einer Ablenkung vom Lernen, andererseits aber auch zur Sanktionierung durch die Lehrer, Beides dann letztlich zu schlechteren Noten. Auch wenn sich das Verhalten eigentlich in den Fachnoten nicht widerspiegeln soll, so hängt doch alles zusammen.

Warum befasst sich die Studie ausgerechnet mit den Situationen in Luxemburg und in der Schweiz?

Das liegt vor allem daran, dass Tina Hascher, die an der Uni Bern die Studie federführend betreut hat, und ich uns beide seit Jahren mit dem Thema Schulentfremdung befassen. Und weil es nun mal unterschiedliche Definitionen in der Wissenschaft gibt, haben wir uns überlegt, dass es doch vielleicht sinnvoll wäre, uns zusammenzuschließen und das Phänomen der Schulentfremdung gemeinsam zu definieren und zu untersuchen. Daher die Zusammenarbeit.

Die Schweiz, speziell der Kanton Bern, hat tendenziell ein eher gegliedertes Schulsystem, aber es gibt durchaus auch häufiger integrativere Schulformen. Wohingegen bei uns in Luxemburg das System generell sehr stark gegliedert ist, d.h. in der Grundschule gibt es aufgrund von der unterschiedlichen Prägung der Wohnquartiere ja nach Grundschule sehr unterschiedliche Klassenzusammensetzungen, die Sekundarstufe ist durch verschiedene Sekundarschulzweige geprägt. In der Schweiz scheint das Schul- und Klassenumfeld stabiler zu sein, d.h. es finden weniger Lehrer- oder Klassenwechsel statt. Und in diesem Zusammenhang hat uns interessiert, ob diese Stabilität dann auch zu weniger Entfremdung führt.

Und ist ein eher stabiles Schulumfeld besser?

Nun, es ist so, dass wir für den Ländervergleich zwar keine eindeutigen Ergebnisse haben, dafür aber eine Tendenz erkennbar ist. Nämlich die, dass die Schulentfremdung in Luxemburg etwas größer ist als in der Schweiz. Generell lässt sich aber für beide Länder sagen, dass man, wenn man Schüler ernst nimmt und ihnen gute Lern-Angebote macht, die Schulentfremdung niedrig halten kann.

Welche Empfehlungen lassen sich für Luxemburg aus der Studie ableiten?

Man könnte den Leistungsdruck durch ein auf Wohlbefinden abzielendes Umfeld reduzieren. Ein solches sollte positive Erfahrungen zwischen Schülern untereinander, mit dem Lernen und mit den Lehrer/innen ermöglichen. Und es ist wichtig, dass Schüler ernst genommen werden. Wenn eine Schule eher funktioniert wie ein Beamtenapparat, dann kann das auch bei Schülern, die eigentlich sehr gut sind – und sicher aber auch bei Lehrern – zur Entfremdung führen. Aber wir haben in Luxemburg auch viele sehr gute Beispiele von Schulen, die sich um die Schüler bemühen und die Balance zwischen dem Setzen von Regeln und dem Einbezug von Schülern und Lehrern in die Weiterentwicklung der Schule sehr gut hinbekommen.

Interview: Uwe Hentschel

Infobox

Publikation

Hadjar A. et al. Changes in school alienation profiles among secondary school students and the role of teaching style: Results from a longitudinal study in Luxembourg and Switzerland. International Journal of Educational Research 105 (2021).

Die Ergebnisse der Studie wurden veröffentlicht und sind für jeden zugänglich (Open Access). Hier der Link zu der Publikation.

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