Gratis öffentlicher Transport

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Ab dem 1. März 2020 wird in Luxemburg gratis öffentlicher Nahverkehr angeboten.

Nein, dadurch werden leider nicht schlagartig alle Autofahrer auf öffentliche Verkehrsmittel umsteigen. Nur durch diese Maßnahme alleine bekommen wir unser Verkehrsproblem nicht in den Griff. Das lässt sich aus den bisherigen wissenschaftlichen Untersuchungen folgern und dessen sind sich auch die luxemburgischen Politiker bewusst. Insgesamt gibt es aber noch zu wenige Studien und an jedem Ort sind die Rahmenbedingungen anders. Deshalb sind präzise Prognosen nicht möglich.

Wo gibt es schon kostenlosen öffentlichen Transport?

Weltweit ist der öffentliche Nahverkehr mittlerweile in rund 100 Orten kostenlos, Tendenz steigend. Die bekanntesten Beispiele sind Tallinn in Estland, Dünkirchen und Aubagne in Frankreich. In Europa ist Polen Spitzenreiter mit rund 20 Gemeinden, dicht gefolgt von Frankreich. Weltweit gibt es kostenlosen Nahverkehr unter anderem in einigen Gemeinden in Brasilien, China und den USA. Mit Luxemburg bietet jetzt zum ersten Mal ein ganzes Land kostenlosen öffentlichen Nahverkehr an - außer in der ersten Klasse.

Wann wurde weltweit zum ersten Mal auf Fahrscheine verzichtet?

Vorreiter waren die USA. 1962 wurde der Nahverkehr in einem Vorort von Los Angeles kostenlos. Größere Gemeinden folgten in den 1970er bis 1990er Jahren. Die meisten haben aber mittlerweile das Gratis-Angebot aus Kostengründen wieder eingestellt. Heute ist noch in knapp 30 US-amerikanischen Gemeinden der Nahverkehr umsonst.

Warum wird kostenloser Nahverkehr eingeführt?

Wissenschaftler haben versucht, sich einen Überblick zu verschaffen, aus welchen Gründen der kostenlose Nahverkehr in den bisher schon existierenden Beispielen eingeführt wurde. Sie konnten drei verschiedene Motivationen identifizieren:

Den Autoverkehr reduzieren

Dieses Ziel wird alleine durch kostenlosen Nahverkehr in den meisten Fällen nur in geringem Maße erreicht. Zwar steigen die Fahrgastzahlen teilweise drastisch um mehr als das zehnfache. Die meisten neuen Fahrgäste sind aber Fußgänger, Fahrradfahrer und Menschen, die mehr Fahrten mit den Öffentlichen machen, als bisher. Nur ein kleiner Teil der Autofahrer steigt um.

Sozialer Ausgleich

Kostenlose Tickets sollen finanziell schwachen Menschen unter die Arme greifen und ihnen mehr Mobilität ermöglichen. In Tallinn sind zum Beispiel die Fahrgastzahlen in der Gruppe der jungen, alten, armen oder arbeitslosen Menschen um 20 bis 30% gestiegen. Ob das auch in Luxemburg der Fall sein wird, werden erst Studien zeigen können, die den Wechsel zum Gratis-ÖPNV begleiten. In der öffentlichen Diskussion wird die Befürchtung geäußert, dass die sozialen Ungleichheiten sogar etwas grösser werden könnten. Die Maßnahme entlaste gut verdienende Nutzer, die in infrastrukturstarken Gegenden leben, wie in Luxemburg-Stadt. Weniger Bemittelte leben hingegen öfter in Ortschaften mit wenig oder schlechten Anbindungen. Sie könnten demnach weniger von kostenlosen öffentlichen Verkehrsmitteln profitieren, obwohl sie Steuern für sie zahlen.

Geld sparen

Vor allem in kleineren Gemeinden kann es günstiger sein, Kontrolleure und Fahrkartenautomaten abzuschaffen und im Gegenzug auf die Einnahmen durch den Verkauf von Fahrkarten zu verzichten. Im bis vor kurzem größten Ballungsraum mit gratis-ÖPNV ist die Einführung aus einem anderen Grund gewinnbringend: In Tallinn sind die öffentlichen Verkehrsmittel für alle Bürger der Stadt kostenlos. Viele Menschen, von denen die meisten bisher schon in der Stadt lebten, meldeten deshalb ihren Wohnsitz in Tallinn an und tragen so zu den Steuereinnahmen der Gemeinde bei. Trotz kostenloser Tickets und Investitionen in den ÖPNV ist die Bilanz für Tallinn derzeit unter dem Strich mit rund 15 Millionen Euro Mehreinnahmen positiv. In Luxemburg geht die Regierung hingegen von deutlichen Mehrausgaben aus: Zahlen zwischen 30 und 60 Millionen Euro wurden bisher in der Presse genannt.

Warum hat Luxemburg den gratis Transport eingeführt?

In Luxemburg gibt die Regierung mehrere Gründe für den gratis-ÖPNV an. Er soll als Teil einer umfassenden Verkehrsstrategie zu einem Infrastrukturwandel beitragen: Weg vom Auto, hin zu Bus, Bahn, Tram und dem Fahrrad. Außerdem soll die Abschaffung von Bezahl-Tickets einen kleinen Beitrag zum sozialen Ausgleich leisten und es wird als positive Marketing-Maßnahme für Luxemburg im Rahmen des „Nation Brandings“ angesehen (Carr & Hesse, 2020).

Ist in den bisherigen Fällen die Nutzung der öffentlichen Verkehrsmittel gestiegen? Und konnte der Autoverkehr reduziert werden?

Das wurde in vier Fällen etwas genauer untersucht, und zwar in Tallinn, Hasselt, Aubagne und Templin. Die Forscher haben sich dabei besonders dafür interessiert, ob sich Autofahrer zum Umsteigen auf die Öffentlichen bewegen ließen.

  • Tallinn: Mit über 400.000 Einwohnern war die Hauptstadt Estlands bis zur Luxemburger Entscheidung der größte Ballungsraum mit gratis-ÖPNV.  Seit seiner Einführung in 2013 ist dort die Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs um 8% gestiegen. Dabei sind 3% der neuen Fahrgäste vom Auto umgestiegen, 5% waren ehemalige Fußgänger. (Cats et al., 2017).
  • Aubagne: 2009 wurde der Nahverkehr in der südfranzösischen Stadt mit knapp 50.000 Einwohnern kostenlos. Was den Verzicht aufs Auto betrifft, ist die Umstellung ein voller Erfolg, zumindest laut Untersuchungen des örtlichen Transportverbandes und der zuständigen Gemeindeverwaltungen. Die Fahrgastzahlen haben sich mehr als verdoppelt (+ 135,8%) , von 1,9 Millionen Fahrgästen in 2008 bis auf 4,48 Millionen in 2011. 50% der dazugewonnen Fahrgäste hätten vor der Umstellung das Auto benutzt, 20% waren Fahrradfahrer und 10 % Fußgänger. Unabhängige Studien zur Entwicklung der Fahrgastzahlen in Aubagne gibt es aber leider nicht. (Klebowski, 2019)
  • Hasselt: In der belgischen Stadt mit rund 77.000 Einwohnern waren alle Busse von 1997 bis 2013 kostenlos. Die Maßnahme war Teil einer umfangreichen Neuausrichtung des Verkehrskonzepts der Stadt. Dabei wurde unter anderem das Busnetz ausgebaut und die Taktfrequenz erhöht. Die Fahrgastzahlen schossen von sehr niedrigem Niveau um das zehnfache nach oben auf 3,2 Millionen Fahrgäste. Vom Auto stiegen immerhin 16% um, vom Fahrrad 12% und 9% wären ohne gratis-ÖPNV zu Fuß gegangen. Trotz des Erfolges wurde der gratis-ÖPNV 2013 wegen Budgetkürzungen eingestellt. (van Goeverden et al, 2006)
  • Templin: In der Kleinstadt mit 15.000 Einwohnern, rund 100 Kilometer nördlich von Berlin, war der öffentliche Nahverkehr von 1997 bis 2003 umsonst. Nach Angaben der Stadt stiegen innerhalb eines Jahres die Fahrgastzahlen um mehr als das achtfache auf 350.000 Passagiere. Zwei Jahre später waren es über 500.000, das Angebot wurde von der Bevölkerung also offensichtlich angenommen. 10-20% der neugewonnen Fahrgäste gaben an, dass sie ohne gratis-ÖPNV  das Auto genutzt hätten. Die große Mehrzahl aber wäre sonst zu Fuß gegangen (35-50%) oder hätte das Fahrrad genommen (30-40%). (Storchmann, 2003)

Warum steigen verhältnismäßig wenig Autofahrer um, selbst wenn die Tickets nichts mehr kosten?

Die Ticketkosten beeinflussen nur zu einem kleinen Teil die Entscheidung, die öffentlichen Verkehrsmittel gegen das Auto zu tauschen. Viel wichtiger für die Entscheidung ist die Qualität des Streckennetzes, Pünktlichkeit, Komfort und Sauberkeit und möglichst keine überfüllten Busse, Tram- oder Bahnabteile. Ein großes Problem in Luxemburg sind neben den überfüllten Pendlerzügen die außerhalb der großen Orte oft langen Fahrtzeiten mit den öffentlichen Verkehrsmitteln. Forscher des MobiLab der Uni Luxemburg haben das vor kurzem in einer noch unveröffentlichten Untersuchung für ganz Luxemburg getestet: mit öffentlichen Verkehrsmitteln ist man oft doppelt bis zu 6mal so lange unterwegs, wie mit dem Auto, selbst zur Rushhour!

Wie kann man Autofahrer dazu bewegen, ihr Auto stehen zu lassen?

Viele wissenschaftliche Untersuchungen, zum Beispiel aus Dänemark, Estland und Deutschland zeigen, dass das vor allem dadurch erreicht werden kann, wenn Autofahren teurer und unbequemer wird. Also unter anderem durch höhere KFZ-Steuern, teureren Kraftstoff, weniger Parkplätze und Mautsysteme. Außerdem scheinen die Einstellungen zum bevorzugten Verkehrsmittel ab der Kindheit angelegt zu werden. Deshalb gehen Wissenschaftler davon aus, dass es wichtig ist, schon Kindern positive Erfahrungen mit Bus, Bahn und Tram zu ermöglichen.

Sind Tickets für den ÖPNV eigentlich kostendeckend?

In der Regel decken die Summen, die über den Fahrkartenverkauf eingenommen werden, maximal die Hälfte der tatsächlichen Kosten. In London und im australischen Melbourne sind die Tickets zu rund 50% subventioniert. In Kontinentaleuropa bewegt sich die Spannbreite zwischen circa 40 % in Madrid bis knapp 20% in Bordeaux. In Luxemburg wurden in 2019 dagegen nur 8% der Kosten über den Verkauf der Tickets gedeckt. Das sind 41 Millionen EUR von den rund 500 Millionen EUR, die bei uns der öffentliche Nahverkehr jährlich kostet. 

Wird ÖPNV als wertlos wahrgenommen, wenn er nichts mehr kostet?

Dem widersprechen Studien, die den kostenlosen Nahverkehr im französischen Aubagne, Dünkirchen und in Polen unter die Lupe genommen haben. Hier wurde die Qualität des öffentlichen Nahverkehrs mit dem Abschaffen der Fahrgebühren erhöht, was zu einer deutlich erhöhten Zufriedenheit der Fahrgäste geführt hat. Wenn mehr Bürger den ÖPNV nutzen, kann der politische Wille steigen, ihn als wichtiges Gemeingut, wie etwa Spielplätze, Parks und Straßen anzusehen und auszubauen.

Wird der öffentliche Nahverkehr unsicherer?

Oft wird die Angst vor „Problem-Fahrgästen“ thematisiert. In einigen Fällen wurde das in Beispielen aus den USA bestätigt. Untersuchungen fanden aber in den allermeisten Beispielen aus Frankreich und Polen, aber auch aus den USA, keine Verschärfung der Sicherheitsproblematik. Die Arbeitsbedingungen der Fahrer und Schaffner können sich sogar verbessern, wenn sie sich nicht mehr mit Schwarzfahrern streiten müssen.

Warum sind die Rahmenbedingungen in Luxemburg so besonders?

Die Luxemburger Wirtschaft und Bevölkerung wachsen weiterhin stark im europäischen Vergleich. Nirgendwo sonst in Europa gibt es so viele Autos pro Kopf und noch dazu pendelt rund die Hälfte der Arbeitskräfte aus dem Ausland nach Luxemburg. Und was in der öffentlichen Diskussion oft vergessen wird: auch der Warentransport nimmt weiterhin stark zu! Damit Luxemburg nicht im Stau steckenbleibt, müssen also intelligente Lösungen gefunden werden.

Wird die Entwicklung des ÖPNV in Luxemburg wissenschaftlich begleitet?

Um den grenzüberschreitenden Verkehr zu modellieren, und zwar sowohl von Personen, als auch von Waren, arbeiten Wissenschaftler des LISER (Luxembourg Institute of Socio-Economic Research) mit ihren KollegInnen aus Frankreich und Deutschland zusammen und beraten das Ministerium für Mobilität und öffentliche Arbeiten. Mit ihrem komplexen Verkehrs-Modell sollen die Konsequenzen von Infrastrukturentscheidungen auf die Verkehrsströme mit den verschiedenen Verkehrsmitteln vorhergesagt werden können. Die Folgen der Einführung des kostenlosen Nahverkehrs in Luxemburg werden in einem anderen Projekt ebenfalls von Wissenschaftlern des Luxembourg Institute of Socio-Economic Research (LISER) in einem europäischen Forschungsprojekt untersucht. Sie hoffen auf starke Beteiligung der Luxemburger Bevölkerung an ihren Befragungen. Aktuell führt das LISER noch eine Online-Umfrage bei Einwohnern und Grenzgängern durch, um herauszufinden, wie zufrieden sie mit ihrer aktuellen Mobilität und vor allem dem öffentlichen Transport sind. Hier der direkte Link zur Umfrage (Teilnahme bis 29. Februar 2020 möglich).

Autor: Ingo Knopf/scienceRELATIONS
Redaktion: Michèle Weber (FNR), Jean-Paul Bertemes (FNR)

Infobox

Quellen und Lesetipps zum Vertiefen
Weitere im Text zitierte Studien

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