SKIN/FNR
Video der "Ziel mir keng!"-Episode.
„Ziel mir keng!“ wird sonntagabends nach dem „Wëssensmagazin Pisa“ auf RTL Tëlee ausgestrahlt. Du kannst Dir die Folgen aber auch auf RTL Play und auf dem YouTube-Kanal science.lu ansehen: https://www.youtube.com/user/scienceluxembourg.
Könntest du dir vorstellen, mit jemandem befreundet zu sein, der eine komplett andere politische Meinung hat als du? Absolut nicht, eher nicht, vielleicht, eher ja, ja absolut ...?
Mit dieser Beispielfrage kann man in Umfragen die Polarisierung unserer Gesellschaft messen. Also, wie gespalten unsere Gesellschaft ist.
Je mehr Antworten an den Extremen, desto größer die Polarisierung, je mehr in der Mitte, desto geringer die Polarisierung.
Sieht man sich die Kommentarspalten in den Social Media an, so könnte man meinen, wir wären sehr polarisiert: Identitätsthemen, Migration, Klimawandel, Naher Osten … häufig gibt es zwei Lager, die sich gegenseitig bekämpfen. Kaum Toleranz, Konsens oder Kompromissbereitschaft, Beleidigungen anstelle von Argumenten … Auch gibt es scheinbar immer mehr Menschen, die extrem rechts oder extrem links wählen.
Müssen wir demnach Angst haben? Ist unsere konsensorientierte Demokratie am Ende?
Die gute Nachricht: Die Wissenschaft zeigt ein viel nuancierteres Bild. Und Polarisierung hat auch positive Effekte. Wir müssen aber achtgeben, dass sie nicht zu stark wird, sonst wird es gefährlich!
Welche Länder sind denn nun stark gespalten? Was sagen die Trends? Und wie sieht die Lage in Luxemburg aus?
Das haben wir in dieser Folge von Ziel mir keng! zusammengefasst und uns dabei auf folgenden Science-Check sowie auf Einschätzungen von Dr. Christophe Lesschaeve und Josip Glaurdić von der Universität Luxemburg basiert.


Polarisierung in den Medien
Studien zeigen, dass Wörter wie „Polarisierung“ oder „polarisieren“ in den Medien häufiger verwendet werden. Hier z. B. die Entwicklung, wie häufig diese Wörter in der deutschen Presse vorkamen.

Bildunterschrift: Entwicklung der Häufigkeit von Wörtern, die mit „polaris...“ beginnen. Daten aus dem DWDS-Zeitungskorpus.
Dies beweist jedoch nicht, dass die Polarisierung in der Gesellschaft tatsächlich zugenommen hat, sondern nur, dass sie in den Medien öfter thematisiert wird.
Was bedeutet Polarisierung überhaupt?
Für die Wissenschaft ist dies ein Indikator, der zeigt, wie weit Meinungen und Positionen auseinanderliegen.
Man kann sich diesen Indikator wie ein Thermometer vorstellen.
Nehmen wir ein fiktives Beispiel, wie Menschen sich im politischen Spektrum links und rechts einteilen. Wenn die meisten Menschen sich in der Mitte positionieren und nur wenige an den Extremen, dann haben wir eine niedrige Polarisierung. Wenn die meisten Menschen sich aber weit links und weit rechts positionieren und es kaum Menschen in der Mitte gibt, dann haben wir eine hohe Polarisierung.


Ausschnitte aus dem Ziel mir keng!-Video zu dem oben genannten fiktiven Beispiel.
Dies war ein Beispiel für eine politische, bzw. ideologische Polarisierung – die also die politischen Positionen der Politiker oder Wähler ausdrückt. Weitere Beispiele wären progressiv vs konservativ. Internationalismus vs Nationalismus.
Es gibt aber auch noch die gesellschaftliche Polarisierung, also zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten – z. B. jung vs alt, reich vs arm.
Oder emotionale oder affektive Polarisierung, also: Du magst die Menschen in deiner Gruppe wirklich sehr, hasst aber die anderen.
Ist Polarisierung gefährlich?
Ja, wenn sie zu hoch ist, absolut! Das kann z. B. dazu führen, dass Aggressivität und Misstrauen zwischen Wählergruppen oder Politikern zunehmen, Institutionen gelähmt werden, das Vertrauen in das gesellschaftliche System geschwächt wird – kurz, dass einfach nicht mehr miteinander diskutiert werden kann und es schwieriger wird, Lösungen und Kompromisse zu finden.
Es gibt übrigens auch eine Studie, die zeigt, dass in extrem polarisierten Gesellschaften die Menschen so fest zu ihrem politischen Vertreter stehen, dass dieser im Grunde genommen tun kann, was er will: lügen, Skandale … und sie ihm trotzdem treu bleiben.
Polarisierung hat dennoch auch positive Seiten, sofern sie nicht allzu ausgeprägt ist: Sie setzt politische Debatten in Bewegung und mobilisiert Wähler. Außerdem muss eine Demokratie auch in einem gewissen Maße Minderheiten- und konträre Meinungen zulassen können. Ohne unterschiedliche Meinungen wäre eine Gesellschaft sehr träge und könnte sich kaum weiterentwickeln.
Die Frage ist – und diese ist noch nicht eindeutig beantwortet – ab wann die Polarisierung zu stark ist und die negativen Auswirkungen überwiegen.
Aus diesem Grunde versuchen die Forscher, die Polarisierung zu messen. Das geht z. B. über Umfragen, psychologische Experimente oder Analysen von Wahlen, Wahlprogrammen, Online-Kommentaren oder den Medien …
Wie sieht es denn nun aus?
Nimmt die Polarisierung zu?
USA
In den USA zeigen zahlreiche Studien deutlich: ja. Hier z. B. eine Grafik, die zeigt, wie Demokraten und Republikaner im Repräsentantenhaus in den letzten Jahrzehnten abgestimmt haben. Gab es in den 50er-Jahren noch viele Überlappungen, so haben sich im Laufe der Zeit deutlich zwei Lager herausgebildet, zwischen denen es kaum noch Überschneidungen gibt.

Stimmverhalten und Polarisierung der Parteimitglieder von Demokraten und Republikanern im Repräsentantenhaus im Laufe der Zeit. Die Vertreter der Republikaner (R) sind rot und die der Demokraten (D) sind blau dargestellt. Ausschnitt aus dem Ziel mir keng!-Video, basierend auf Andris et al. (2015).
In Europa
In Europa ist es komplizierter.
Hier eine Grafik, die die Polarisierung der Parteiensysteme in verschiedenen Ländern im Laufe der Zeit auf einer Skala von 0 bis 6 aufzeigt. Wir sehen eine hohe Polarisierung für Länder wie Frankreich oder die Niederlande. Eine niedrigere für Malta oder Luxemburg. Ein Trend nach oben für die Schweiz oder Belgien, einen nach unten für Luxemburg … da sind alle möglichen Varianten vertreten.

Entwicklung der Polarisierung der Parteisysteme in einzelnen Ländern Westeuropas im Laufe der Zeit. Quelle: Emanuele & Marino (2024).
Auf der Ebene der affektiven Polarisierung, also wie wir Menschen aus der eigenen und der anderen Gruppe emotional bewerten, ist es ähnlich.

Entwicklung der affektiven Polarisierung in den vergangenen vierzig Jahren auf einer Skala von 0 bis 100. Quelle: Cross-Country Trends in Affective Polarization (2024)
Hier sieht man einen klaren Trend nach oben, z. B. in den USA, der Schweiz und Frankreich. Und einen Trend nach unten, z. B. für Norwegen, Schweden oder Deutschland.
Demnach, nein – die Polarisierung nimmt nicht überall in der westlichen Welt konstant und im gleichen Maße zu.
Rezente Entwicklung
Die Analysen der oben erwähnten Studien wurden zwar rezent veröffentlicht, die Zahlen reichen jedoch nur bis 2019 bzw. 2020. Seitdem ist viel passiert: Covid, der russische Angriff auf die Ukraine, verschiedene Wahlen in Europa, bei denen extreme Parteien viele Stimmen erzielen konnten ...
Rezentere Einschätzungen von Experten bis 2024 deuten darauf hin, dass die politische und gesellschaftliche Polarisierung in der EU seit 2019 weiter angestiegen ist.

Politische Polarisierung in der EU seit 2020, von 0 bis 4, von Experten in allen Ländern bewertet. Daten aus dem Projekt V-Dem.
Die politische Polarisierung befände sich demnach in Europa wieder auf dem Stand von Anfang der 70er-Jahre, höher als in den 90er-, 2000er-, aber niedriger als in den 30er-Jahren.
Auch andere Studien bestätigen diesen jüngsten Trend.
Es sei im Übrigen nicht so, dass die Mainstreamparteien extremer geworden wären, vielmehr hätte sich der Wähler von den zentristischen Parteien wegbewegt, sagt der Forscher Christophe Lesschaeve der Universität Luxemburg.
Er warnt, dass die Polarisierung seit 2010 immer mehr zusammenfällt mit einer Fragmentierung der Parteien und einer elektoralen Volatilität. Diese Mischung könnte gefährlich werden.
Dazu kommt, dass es seit 2010 ebenfalls eine viel stärkere Tendenz gibt, in Westeuropa Anti-System-Parteien zu wählen.

Anteil der Stimmen, die in Westeuropa an Anti-System-Parteien gehen, nach Jahrzehnten. Daten entnommen aus: Polarization: What Do We Know and What Can We Do About It? (2021)
Anzumerken ist jedoch, dass trotz der jüngsten Zunahmen die Höhe der politischen Polarisierung in Europa substanziell niedriger ist als in den USA.
Was sind mögliche Ursachen?
Über die Ursachen für eine hohe Polarisierung haben wir noch gar nicht gesprochen. Eine, die in diesem Zusammenhang häufig erwähnt wird, sind Social Media. Dies konnte jedoch noch nicht eindeutig von der Forschung nachgewiesen werden. Die Tatsache, dass die Polarisierung seit der Einführung der Social Media nicht in allen Ländern angestiegen ist, spricht eher dagegen.
In der Forschung wird noch über eine ganze Reihe anderer möglicher Ursachen diskutiert. Darunter z. B. Populismus, Fake News, zunehmende Ungerechtigkeiten … Mehr dazu in folgendem Artikel, in dem wir auch auf die Diskussionen eingehen, was man gegen Polarisierung unternehmen kann.
Wie sieht die Situation in Luxemburg aus?
Studien und Umfragen deuten darauf hin, dass Luxemburg weniger polarisiert ist als viele andere europäische Länder, und dass Luxemburg gegen den Trend einer zunehmenden Polarisierung geht, sagt der Forscher Christophe Lesschaeve der Universität Luxemburg. Die Parteilandschaft in Luxemburg sei z. B. auch in ideologischer Hinsicht vergleichsweise moderat und die Divergenzen zwischen den Parteien sogar ein wenig geringer geworden.
Mehr über die Situation in Luxemburg von Dr. Christophe Lesschaeve in folgendem Artikel:
Es gibt allerdings Risiken, wie z. B. wirtschaftliche Ungleichheiten, die die Gefahr einer Polarisierung zwischen arm und reich befeuern könnten.
Fazit
Polarisierung ist nicht ausschließlich schlecht. Und man kann nicht pauschal sagen – obwohl man dies meinen könnte – dass sie weltweit konstant zunimmt. Es gibt jedoch Hinweise dafür, dass in den letzten Jahren, zumindest in den USA und in Europa, eine Tendenz zu größerer Polarisierung besteht. Luxemburg blieb bislang jedoch relativ davon verschont. Fest steht auch, dass Polarisierung ab einem gewissen Grad mehr negative als positive Auswirkungen hat. Sie kann sogar richtig gefährlich werden!
Wenn Polarisierung eine Art Thermometer für unsere Demokratie ist, dann liegt es an uns, achtzugeben, dass dieses Thermometer nicht zu sehr steigt.
In diesem Sinne: Lasst uns diskutieren und uns gegenseitig zuhören – ohne laut zu werden!

Präsentiert wurde diese Folge von Ziel mir keng! von Jean-Paul Bertemes und Michèle Weber vom Luxembourg National Research Fund (FNR).
Autor: Jean-Paul Bertemes (FNR)
Peer-Review: Josip Glaurdić, Christophe Lesschaeve (Universität Luxemburg)
Hintergrundrecherchen: Daniel Saraga
Lektorat: Michèle Weber, Didier Goossens (FNR)
Video: SKIN
Übersetzung: Nadia Taouil (www.t9n.lu)
Infobox
Swire-Thompson, B., Ecker, U.K.H., Lewandowsky, S. and Berinsky, A.J. (2020), They Might Be a Liar But They’re My Liar: Source Evaluation and the Prevalence of Misinformation. Political Psychology, 41: 21-34. https://doi.org/10.1111/pops.12586
Andris C, Lee D, Hamilton MJ, Martino M, Gunning CE, et al. (2015) The Rise of Partisanship and Super-Cooperators in the U.S. House of Representatives. PLOS ONE 10(4): e0123507. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0123507
Emanuele, V., & Marino, B. (2024). Party system ideological polarization in Western Europe: data, trends, drivers, and links with other key party system properties (1945–2021). Political Research Exchange, 6(1). https://doi.org/10.1080/2474736X.2024.2399095
Levi Boxell, Matthew Gentzkow, Jesse M. Shapiro; Cross-Country Trends in Affective Polarization. The Review of Economics and Statistics 2024; 106 (2): 557–565. doi: https://doi.org/10.1162/rest_a_01160
https://www.v-dem.net/data_analysis/CountryGraph/
Casal Bértoa F and Rama J (2021) Polarization: What Do We Know and What Can We Do About It?. Front. Polit. Sci. 3:687695. doi: 10.3389/fpos.2021.687695