Feldhamster

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Laut WWF ist der Feldhamster vom Aussterben bedroht. Damit ist diese Art leider nicht allein...Viel mehr Pflanzen- und Tierarten sind vom Aussterben bedroht als bisher angenommen.

Noch vor wenigen Jahren hieß es, dass rund eine Million Tier- und Pflanzenarten vom Aussterben bedroht oder bereits ausgestorben seien. Ein Forschungsteam vom luxemburgischen Nationalmuseum für Naturgeschichte hat jetzt nachgezählt. Das Ergebnis: Der Wert muss auf das Doppelte nach oben korrigiert werden. Denn es sind wohl eher zwei Millionen Arten, deren Existenz auf der Kippe steht. Was ist geschehen? Welche Arten sind besonders gefährdet? Und was können wir tun? Das und noch viel mehr wollten wir von Forschungsgruppenleiter Axel Hochkirch wissen. Im Interview steht der Kurator für Ökologie am Naturkundemuseum Luxemburg und Professor für Biodiversität und Naturschutz an der Universität Trier uns Rede und Antwort.

Autor: Kai Dürfeld (für scienceRELATIONS – Wissenschaftskommunikation)
Editor: Michèle Weber, Jean-Paul Bertemes (FNR)

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Über den Experten Prof. Dr. Axel Hochkirch vom 'naturmusée'

Die Biodiversität und insbesondere die Naturschutzbiologie stehen im Mittelpunkt der Forschung von Prof. Dr. Axel Hochkirch. Bereits während seines Studiums beschäftigte sich der Biologe mit der Ökologie von Heuschrecken. Als Kurator für Ökologie am Nationalmuseum für Naturgeschichte Luxemburg und Professor für Biodiversität und Naturschutz an der Universität Trier ergründet er heute, wie Biodiversität entsteht und was nötig ist, sie aufrechtzuerhalten.

Wir befinden uns in einem Massenaussterben, können aber noch eingreifen! 

Prof. Dr. Axel Hochkirch

Herr Professor Hochkirch, der Weltbiodiversitätsrat hatte 2019 noch geschätzt, dass eine Million Arten weltweit vom Aussterben bedroht oder bereits ausgestorben sind. Jetzt kommen Sie auf die doppelte Anzahl. Die Nachricht schlug hohe Wellen. Sie wurden interviewt von BBC, dem Guardian, dem ZDF oder der Süddeutschen. Was ist passiert?

„Das liegt vor allen Dingen daran, dass es seit der letzten Schätzung bessere Daten gibt. Damals gab es Unsicherheiten bei den Wirbellosen. Vor allem bei den Insekten. Es gab sehr viele Arten, bei denen die Daten nicht ausreichten. Deswegen ging der Biodiversitätsrat damals recht konservativ von 10 Prozent gefährdeter Insekten aus. Zu besseren Einordnung: Bei den Schätzungen ging man von 8,1 Millionen Tier- und Pflanzenarten aus. Darunter befinden sich 5,5 Millionen Insektenarten. Bei unseren neueren Analysen zeigt sich nun, dass die Insekten genauso gefährdet sind, wie die anderen Artengruppen. Das heißt, man muss auch hier die gleichen 25 Prozent ansetzen. Das ist zwar ein Mittelwert und natürlich gibt es zwischen den einzelnen Artengruppen Variationen. Aber insgesamt scheint sich alles auf diesen Mittelwert einzupendeln.“

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Was ist eine Rote Liste?

Auf die Rote Liste gefährdeter Arten ist ein Instrument zur Bewertung der Gefährdung von Arten.. Darin werden alle Arten einer Gruppe bewertet und nach quantitativen Kriterien in eine der Rote-Liste-Kategorien eingeordnet. Die Kategorien sind: Least Concern (ungefährdet), Data Deficient (keine ausreichenden Daten), Near Threatened (Vorwarnliste), Vulnerable (gefährdet), Endangered (stark gefährdet), Critically Endangered (vom Aussterben bedroht), Regionally Extinct (nur in der betreffenden Region - hier Europa - ausgestorben), Extinct in the Wild, Extinct (ausgestorben). Auf internationaler Ebene werden diese Listen von der IUCN geführt. Das steht für International Union for the Conservation of Nature, der Weltnaturschutzunion. Es gibt aber auch nationale Listen, die jedes Land oder auch jede größere Verwaltungseinheit eines Staates führt. Darin sind die einzelnen Arten erfasst, wie stark sie gefährdet sind oder ob es sie in der Region, für die die Liste erstellt wurde, bereits nicht mehr gibt. Ist Naturschutz hingegen erfolgreich und erholt sich eine Art wieder, wird sie in eine niedrigere Kategorie (z.B. „ungefährdet“) eingeordnet. Dazu wird regelmäßig nachgezählt und die Listen werden entsprechend aktualisiert.

Das heißt also, dass es keine sichtbaren Unterschiede zwischen den Artengruppen gibt?

„Doch, die gibt es schon. So sind zum Beispiel die Süßwasserlebensräume besonders stark betroffen. Bei Süßwassermollusken, also Muscheln und Schnecken, zählen wir fast 60 Prozent gefährdete Arten. Bei den Süßwasserfischen ist die Zahl mit etwa 40 Prozent ebenfalls sehr hoch. Und auch innerhalb der Insekten gibt es Unterschiede. Bei den Libellen sind etwa 15 Prozent der Arten gefährdet; bei den Heuschrecken sind es fast 30 Prozent.“

Haben Sie auch nach den Gründen für das Artensterben geschaut?

„Ja und das sind im Prinzip die altbekannten. Dazu muss man wissen, dass die Roten Listen in Europa nach einem standardisierten, systematischen Schema aufgebaut sind. Da haben wir für jede Art wirklich die Gefährdungsfaktoren. Zum Beispiel die Übernutzung der biologischen Ressourcen, wie etwa die Überfischung der Meere; die Verschmutzung der Umwelt, was besonders bei den Binnengewässern gravierende Folgen hat; oder die Nutzung natürlicher Lebensräume durch den Menschen durch Flächenversieglung für Wohn- und Gewerbegebiete. Die größte Rolle aber, das hat sich zeigt, spielen die Veränderungen der Landnutzung

In Ihrer Studie haben Sie sich auf Europa konzentriert. Können Sie trotzdem Rückschlüsse auf den Rest der Welt ziehen?

„Ja. Und das haben wir auch gemacht. Da sich die Schätzung des Weltbiodiversitätsrats auf die ganze Welt bezieht, haben wir unsere europäischen Daten extrapoliert. Natürlich gibt es Regionen, in denen die Gefährdung deutlich geringer ist als in anderen. Nehmen wir zum Beispiel Neuguinea, wo allein durch die geringe Besiedlung auch die Gefährdung niedriger ist. Und als Gegenbeispiel vielleicht Regenwaldregionen in Indonesien, die großflächig abgeholzt werden. Es gibt also durchaus Schwankungen. Aber es zeigt sich, dass sich bei einigen Artengruppen der Gefährdungslevel in Europa und dem Rest der Welt sehr ähneln. So gleichen sich zum Beispiel die Prozentsätze gefährdeter Vogelarten beinahe. Und auch bei den Libellen ist das ähnlich.“

In den Medien heißt es immer öfter, dass ein neues Massenaussterben voll im Gange wäre. Wie schätzen Sie das ein?

„Der Mensch beeinflusst die gesamte Erde. Und das hat ein einzelner Organismus in einer solchen Form wahrscheinlich nie zuvor getan. Bei uns in Mitteleuropa gibt es keinen Quadratmeter, der nicht irgendwie von Menschen genutzt oder beeinflusst wird. Und weltweit betrachtet, wird das eher die Regel werden. Es gibt immer weniger Wildnisgebiete. Und selbst dort, wo früher vielleicht nur wenige Menschen lebten und traditionelle Landwirtschaft betrieben, finden heute Änderungen statt. Auch weil die menschliche Bevölkerung immer weiter wächst. Und es gibt ein zweites großes Problem: den Überkonsum. Wir verbrauchen viel mehr, als wir eigentlich dürften, um mit dieser Erde vernünftig hauszuhalten. Das alles ist gut dokumentiert. Und deswegen sage ich: Ja, wir befinden uns in einem Massenaussterben. Aber noch relativ am Anfang. Das heißt, momentan können wir noch eingreifen.“

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Massenaussterben: die bisherigen “Big Five”

Faunenwechsel klingt schon fast ein wenig poetisch. Dabei verschwinden bei einem solchen Ereignis eine große Anzahl unterschiedlichster Arten auf Nimmerwiedersehen von der Erde. Massenaussterben werden diese Ereignisse deshalb auch genannt. Und sie traten in der Vergangenheit immer wieder auf. Besonders die „Big Five“ werden gern zitiert. Bei jedem dieser Großereignisse verschwanden fast dreiviertel der damals vorhandenen Arten vom Globus. Und das innerhalb geologisch kurzer Zeiträume von wenigen Zehntausend Jahren. Mal könnte ein Asteroid der Übeltäter gewesen sein. Mal ein Supervulkan. Mal die Verschiebung eines ganzen Kontinents. Das sechste große Massenaussterben könnte hingegen auf unsere Kappe gehen (siehe blauer Infokasten). Übrigens: Nach jedem dieser Massenaussterben hat das Leben einen Neustart hingelegt, andere Artengruppen haben die freien Ressourcen genutzt und die Erde blühte wieder auf. Dass sich aber die vorherrschenden Spezies einer endenden Epoche nicht unbedingt ins neue Zeitalter hinüberretten können, haben uns die Dinosaurier gezeigt.

Das “sechste” Massenaussterben hat begonnen:

Die Art und Weise wie wir Menschen uns die Erde untertan machen, geht nicht spurlos an anderen Arten vorbei. Vernichtung von Lebensräumen, Eingriff in Nahrungsketten, Veränderung des Klimas – das alles trägt heute zum Artenschwund bei. Zwar sind wir von den 70 bis 75 Prozent ausgelöschter Arten der „Big Five“-Massenaussterben (siehe Infobox) noch weit entfernt. Doch das Tempo, das wir vorlegen, ist beispiellos in der Geschichte des Planeten. So sterben Säugetierarten nach aktuellen Schätzungen fast hundertmal schneller aus als vor der Zeit, in der die Menschheit das Zepter übernommen hat. Und bei Insekten liegt der Wert zumindest auf lokaler Ebene noch fünfmal höher.

Wir haben also noch eine realistische Chance, das Artensterben aufzuhalten?

„Ja, ich glaube schon. Man muss eben die richtigen Maßnahmen treffen. Und es gibt ja auch Bereiche, in denen sich bereits Erfolge zeigen. Zum Beispiel wenn man an die Fließgewässer denkt. Hier hat die Renaturierung in Mitteleuropa in den letzten Jahren große Fortschritte gemacht. Nachdem die natürlichen Läufe von Flüssen wieder hergestellt werden, erholen sich auch viele Arten. Gerade viele Libellen wie die Blauflügelige Prachtlibelle, die Gebänderte Prachtlibelle, die Gemeine Keiljungfer oder die Asiatische Keiljungfer, die früher extrem selten waren, sind heute wieder recht häufig geworden. Insofern ist die Restaurationsgesetzgebung, die gerade im Europäischen Parlament beschlossen wurde, ein Schritt in die richtige Richtung. Das Wichtige ist, dies jetzt bei den Lebensräumen umzusetzen, die am stärksten gefährdet sind. Hierzu gehören nun mal die landwirtschaftlichen Flächen. Und das ist auch der schwierigste Brocken. Denn daran hängt natürlich immer die Existenz von Landwirten. Deshalb muss man das auf eine Weise machen, die Landwirten auch ein gutes Auskommen sichert. Und die auch nicht zu bürokratisch wird. Man muss also gute Wege finden, auch kleinbäuerliche Strukturen zu erhalten. Denn es gibt ja in Europa nicht nur ein Artensterben, sondern durchaus auch ein Bauernsterben. Vor allem Kleinbauern geben auf. Da muss das System umgekrempelt werden. Und da muss auf jeden Fall die Politik ran.“

Und was könnte man hier in Luxemburg machen, um einen Beitrag gegen das Artensterben zu leisten?

„Am wichtigsten ist es, Aktionspläne für gefährdete Arten und auch für Lebensräume aufzustellen. Wir müssen die noch vorhandenen Lebensräume wieder besser miteinander vernetzen. Da gibt es auch schon Projekte, an denen wir als Museum beteiligt sind. In einem aktuellen schaffen wir sogenannte Buzz-Lines für Bestäuber. Damit versuchen wir, deren Lebensräume wieder zu vernetzen. Das ist ganz wichtig. Denn vor allem die Lebensräume besonders gefährdeter Arten sind sehr isoliert. Nehmen Sie zum Beispiel das wunderschöne Naturschutzgebiet „Aarnescht“. Da finden Sie sehr seltene Arten. Ringsherum aber schon nicht mehr. Und deshalb müssen wir Trittsteine in der Nähe herstellen, damit solche Arten sich auch wieder ausbreiten können.“

Jetzt kann man es sicher als eine moralische Pflicht ansehen, das von uns verursachte Artensterben aufzuhalten. Aber gibt es auch ganz praktische Gründe, warum wir das tun sollten?

„Ja, natürlich gibt es die. So haben die meisten Arten eine gewisse Funktion in den Ökosystemen. Denken Sie einfach mal an die sogenannten Ökosystemdienstleistungen, die uns die Natur bietet. Zum Beispiel all die ganzen Tierarten, die unsere Feldfrüchte oder unsere Blumen bestäuben. Oder all jene Organismen, die für Bodenbildung sorgen. Die auch Dung wieder kompostieren und zur Erde zuführen. Oder Aas beseitigen. Und denken Sie auch an die natürliche Schädlingskontrolle. Denn manche Lebewesen ernähren sich von Arten, die wir als Schädlinge betrachten und halten sie damit im Zaum. Es gibt also eine ganze Menge solcher Dienstleistungen, die die Natur uns bietet. Mein Hauptargument aber ist, dass jede Art ein Recht zu leben hat. Das ist praktisch ein Eigenwert, den wir auch schützen müssen.“

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