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Die Europawahlen sind die größten grenzüberschreitenden Wahlen der Welt.  Bei der zehnten Auflage im Juni 2024 werden die insgesamt 720 Abgeordneten des europäischen Parlaments bestimmt. Wie ist die Stimmung in Europa? Wie groß ist das Interesse an der Wahl - und was sind die Themen? Wie werden sich Europas Wähler angesichts von Konjunkturkrisen und Klimawandel verhalten - wird es zum befürchteten Rechtsruck kommen? Fragen an die Politologin Prof. Dr. Anna-Lena Högenauer von der Universität Luxemburg.

Prof. Anna-Lena Högenauer is Associate Professor in Political Science at the University of Luxembourg and the Course Director of the Master in European Governance. She holds a BA in European Studies with French from King’s College London (BA), an MA in European Political and Administrative Studies from the College of Europe in Bruges and holds a PhD in Politics from the University of Edinburgh (2011). Her research covers questions of multi-level governance and regional interest representation, Europeanization, parliamentary scrutiny of European affairs, legitimacy in EU policy-making and the role of small states in the EU.

Interessieren sich Europas Bürger überhaupt für die Europawahlen?

Die Europawahlen 2024 fallen in eine kritische Zeit geopolitischer Instabilität. Der Angriffskrieg auf die Ukraine, die Krise in Nahost und Chinas Drohungen gegenüber Taiwan ändern unseren Blick auf die Welt. Viele Menschen nehmen sie als weniger stabil wahr. In solchen Krisen besinnen sich die Bürger darauf, dass man in der Gemeinschaft stärker ist als allein. Für die Europäische Union ist das eine Chance, sich neu zu definieren.

Zeigt sich diese wachsende Zustimmung in den Umfragen?

Seit der Pandemie und dem Ukrainekrieg ist die Zustimmung der Bürger zur EU um fünf Prozent auf 72 Prozent gestiegen. Sogar in den EU-kritischsten Ländern Italien, Bulgarien und Österreich liegt die Zustimmung noch bei über 55 Prozent. Die Menschen wurden sich in der Pandemie bewusst, was Grenzschließungen für sie bedeuten. Dazu kommt jetzt aktuell die Sorge um die strategische und wirtschaftliche Unabhängigkeit Europas.

Spiegelt sich das auch im Interesse an den Wahlen 2024 wieder?

Tatsächlich zeichnete sich in den Eurobarometer-Umfragen vom vergangenen Jahr bereits ein vergleichsweise gutes Interesse an den bevorstehenden Wahlen zum Europäischen Parlament ab. Demnach würden 71 Prozent der Luxemburger – und 68 Prozent aller Europäer – zur Europawahl gehen, wenn sie nächste Woche stattfänden. So eine hohe Wahlbeteiligung ist zwar nicht realistisch, aber eine Wahlbeteiligung von über 50 Prozent wäre für Europa schon ein gutes Resultat.

Quelle: EP Autumn 2023 Survey: Six months before the 2024 European Elections - Infographics
(https://europa.eu/eurobarometer/surveys/detail/3152)

Warum gehen dennoch weniger Menschen zur europäischen als zur nationalen Wahl – ist die EU den Menschen noch nicht wichtig genug?

Die Wähler verstehen weniger gut als bei nationalen Wahlen, worum es bei den Europawahlen geht.  Sie sind weniger informiert darüber, wie die EU funktioniert und für welche Politikbereiche sie überhaupt zuständig ist. Vor allem aber wird die Debatte über die Europäische Union meiner Ansicht nach immer noch als „Pro- oder Contra“-Debatte geführt – also über Frage, ob man generell gegen die EU ist oder dafür. Die Diskussionen im Europaparlament zu bestimmten Themen wie der Umwelt- oder Agrarpolitik werden noch nicht genug an die Öffentlichkeit getragen.

Das liegt zum Teil an den Medien, zum Teil an den Parteien selbst. Denn im Wahlkampf vereinfachen sie ihre Botschaften massiv. So wird es für die Wähler sehr schwer, Unterschiede zwischen den Parteien auszumachen. Ein Beispiel dafür ist der Wahlkampf in Luxemburg für die Europawahl 2019. Ich habe damals die Wahlprogramme analysiert und die Themen der Parteien waren mehr oder weniger identisch. Wenn die Wähler keine echte christlich-demokratische, sozialdemokratische, grüne oder linke Vision von Europa erkennen können, dann ist der Wahlkampf für sie uninteressant.

Wie überzeugen Sie da einen Bürger, dennoch wählen zu gehen?

Die Rechtspopulisten sind im europäischen Parlament recht gut vertreten. Umfragen zufolge könnten sie 2024 um 20 bis 30 weitere Sitze zulegen. Für proeuropäisch eingestellte Wähler wäre das ein guter Grund, wählen zu gehen. Denn wer nicht wählt, hat keinen Einfluss. Das sollten sich vor allem junge Menschen klarmachen. Der Eurobarometer-Umfrage zufolge wollen nur 56 Prozent der 15- bis 24-Jährigen wählen gehen, gegenüber 70 Prozent der über 50-Jährigen.

Die geringe Wahlbeteiligung der Jugend hat man auch beim Brexit beobachtet: Junge Menschen waren mehrheitlich für den Verbleib in der EU (Finlay et al. 2020). Sie demonstrierten auf der Straße, gingen aber seltener zur Wahlurne als ältere Menschen, die eher für den Brexit waren. Hätten sie es getan, wäre die Abstimmung über den Brexit womöglich anders ausgefallen. Gesetze werden nicht durch Demos geändert, sondern im Parlament. Wenn junge Menschen die Freizügigkeit der Bürger in Europa oder Erasmus-Stipendien schätzen, sollten sie ihr Wahlrecht nutzen. Eine einzelne Stimme mag nicht viel zählen, doch in der Summe macht sie einen Unterschied.

Ein zweiter Grund zum Wählen ist, dass die Wahlprogramme der Parteien jetzt wieder echte Unterschiede aufweisen. Das hat man schon bei den nationalen Wahlen 2023 gesehen. Da ist es nicht mehr egal, ob ich schwarz oder rot wähle.

Der EU-Wahlkampf verspricht also dieses Jahr spannend zu werden?

Ja, denn es geht nicht mehr nur um pro- oder antieuropäische Positionen. Erstmals ist wieder eine Spaltung der politischen Mitte in Mitte-rechts und Mitte-links zu beobachten. Vielleicht werden wir 2024 zwischen den europäischen Parteien wirklich unterschiedliche Visionen und Positionen zur Migration, zum Klimawandel, zur Armutsbekämpfung oder zur Verteidigungspolitik erkennen. Das würde ich begrüßen. Demokratie braucht die Pluralität der Positionen, und zwar auch innerhalb der politischen Mitte und nicht nur zwischen der Mitte und den extremen Parteien. Die Menschen brauchen das Gefühl, dass sie sich zwischen konservativer, sozialdemokratischer, liberaler oder grüner Politik entscheiden können. Es ist schwer, unzufriedene Protestwähler in die demokratische Mitte zurückzuholen, wenn diese Mitte ein Einheitsbrei von Meinungen ist.

Kennen die Menschen denn die Positionen der Parteien, und ihre Unterschiede?

Der Wahlkampf hat noch nicht begonnen, die Programme sind noch nicht im Detail bekannt. Die Frage ist, ob die Parteien die Unterschiede in ihren Positionen deutlich genug machen oder wieder nur Plattitüden verbreiten. Für die Demokratie und gegen den Klimawandel – mit solchen Botschaften kann man als Wähler nicht viel anfangen, wenn gefühlt alle Parteien für die Demokratie und gegen den Klimawandel sind. Das sind zwar wichtige Werte, aber die Parteien vermeiden durch diese allgemeinen Debatten zum Teil, konkrete Probleme und Lösungsansätze anzusprechen. Die Parteien brauchen etwas Mut zum Konkurrenzkampf der Ideen. Die Leute wollen wissen, wie die Parteien konkret etwas ändern wollen – besonders in Politikbereichen, die den Bürgern große Sorgen bereiten.

Was macht den Menschen denn derzeit die größten Sorgen?

Die Diskussion über die strategische Unabhängigkeit Europas nimmt an Fahrt auf. Dies auch, weil in den USA Donald Trump realistische Chancen hat, Präsident zu werden, nicht berechenbar ist und Europa weniger unterstützt. Armut, Beschäftigung und Lebensstandard sind Prioritäten der sozialdemokratischen, linken und grünen Parteien. Auch der Klimawandel bleibt ein großes Wahlkampfthema, aber nicht mehr in dem Maße wie zuvor. Zudem ist nicht mehr einfach jeder gegen den Klimawandel. Vielmehr ist eine Spaltung in rechte und linke Klimapolitik zu sehen. Klima-Maßnahmen wie der Einbau neuer Heizungen werden sehr teuer für die Bürger und als nicht sozialverträglich empfunden. So kommt nun eine Debatte darüber auf, was die richtige Umweltpolitik ist.

Einwanderung ist ebenfalls ein Dauerbrenner, denn die Staaten erreichen die Grenzen ihrer Aufnahmekapazitäten. Ideen, wie die Aufnahme von Flüchtlingen beschränkt und geregelt werden kann, haben enormes Wahlkampfpotential. Angesichts von Medikamenten-Knappheit und Lieferengpässen bei Erkältungswellen wird auch die Stärkung der Gesundheitssysteme und der Medikamente-Produktion in Europa immer mehr zum Thema.  

Sind auch kleine Länder wie Luxemburg ausreichend repräsentiert und können sie etwas bewirken?

Durchaus. Zu dieser Frage habe ich gerade einen wissenschaftlichen Artikel in einem Buch über die politische Rolle kleiner Staaten in der EU verfasst. Luxemburg stellt mit sechs Abgeordneten zwar weniger als 1 Prozent aller Abgeordneten, ist aber im Vergleich zu großen Ländern überrepräsentiert. Deutschland zum Beispiel ist 130 mal größer als Luxemburg, hat aber nur 96 Europa-Abgeordnete.

Kleine Länder bewirken aber noch aus einem anderen Grund mehr, als man meint.

Abgeordnete aus kleinen Ländern wie Luxemburg sind in der Regel gleich in mehreren Ausschüssen aktiv. Sie wählen die wichtigsten Ausschüsse und Gesetzesinitiativen aus. Dadurch stehen diese Politiker mehr im Rampenlicht als andere und haben gute Kontakte, auch wenn sie weniger Detailkenntnisse in einem spezifischen Politikbereich haben als ein Abgeordneter aus einem großen Land, der sich ganz auf ein Thema konzentrieren kann.

In einem Ranking brachten es vergangenes Jahr drei Luxemburger unter die hundert einflussreichsten EP-Abgeordneten: Christophe Hansen (Platz 23) , Charles Goerens (63) und Marc Angel (91). Im Ranking 2024 übernahm Isabel Wiseler-Lima (Platz 12) die Führung, nachdem Christophe Hansen in die nationale Politik wechselte. Luxemburgs EP-Abgeordnete betreuen wichtige Gesetze mit, sind gut vernetzt mit der nationalen Politik und in der Öffentlichkeit sichtbar. Luxemburg hat auch immer wieder ehemalige Minister im Europaparlament, während in anderen Ländern das EP-Mandat als weniger attraktiv für nationale Politiker gilt. In dem Sinne agieren kleine Länder strategischer.

Wie groß ist die Gefahr von Wahlmanipulationen, wie etwa durch Russland bei den US-Wahlen?

Diese Gefahr besteht. Das beginnt mit der Meinungsmanipulation durch Chatbots aus dem Ausland. Sie können in sozialen Medien pro Tag Tausende von Posts verbreiten und einen Trend gegen eine Regierung auslösen. Dazu kommt das wachsende Problem der Fake News, auch Fake Fotos und Videos, die selbst von Profis nur noch schwer als solche zu erkennen sind. Für die demokratischen Parteien ist es eine echte Herausforderung, gegenzusteuern und zugleich positive Botschaften zu verbreiten. Politische Bildung und Medienerziehung sind die Schlüssel. Die Wähler müssen wissen, dass zum Beispiel viele Beiträge auf X, vormals Twitter, nicht von echten Menschen stammen. Sie müssen wissen, wo sie seriöse Nachrichten finden und wo nicht.

Und was sind aus Ihrer Sicht als Wissenschaftlerin aktuell die größten politischen Herausforderungen der EU?

An erster Stelle steht für mich ganz klar die wirtschaftliche und militärische Unabhängigkeit Europas. Wir haben im vergangenen Winter erlebt, wie das Ende der strategischen Freundschaft zwischen der EU und Russland zu großen Sorgen um unsere Energiezufuhr führte. Ob Gas oder Medikamente: In einer instabilen Weltlage ist absehbar, dass Länder, die nicht mehr miteinander befreundet sind, auch keinen Handel mehr miteinander betreiben. Darauf muss sich die Europäische Union im Eiltempo vorbereiten.

Zweitens muss die Politik die Migration in die EU besser managen, um Stabilität zu wahren. Ein erheblicher Teil der Mitgliedsstaaten steht unter Druck und hat Probleme bei der praktischen Umsetzung der Migrationspolitik. Die dritte Herausforderung ist die Wahrung des sozialen Friedens. Auch in extrem reichen Ländern leben extrem arme Menschen. Wenn diese Menschen das Gefühl haben, abgehängt zu sein, und nicht daran glauben, dass es in der Zukunft bergauf gehen könnte, sinkt die Bereitschaft für Solidarität mit anderen. Menschen brauchen zuerst eigene Sicherheit, um sich solidarisch gegenüber anderen zu verhalten.

Und wer sich abgehängt fühlt, tendiert aus Protest zu extremen Parteien?

Genau. Populisten können auf solche frustrierten Wähler leicht zugreifen. Ob es die Wohnungsnot ist wie hier in Luxemburg oder Arbeitslosigkeit: Die Menschen brauchen eine Perspektive – sonst nutzen Populisten diesen Unmut für ihre Zwecke. Auch deshalb ist es wichtig, dass die Parteien der Mitte mit konkreten Lösungsansätzen in den Wahlkampf ziehen.

Was bedeutet der Aufschwung der Rechtspopulisten in mehreren EU-Mitgliedstaaten für die Europawahl? Gibt es schon Prognosen zum Wählerverhalten?

Ich sehe noch keinen dramatischen Rechtsruck. Den jüngsten Umfragen zufolge soll die Europäische Volkspartei (EVP) eher stabil bleiben, die Grünen, die Sozialdemokraten, die Liberalen und möglicherweise auch die Linken könnten verlieren, die Rechtspopulisten zulegen. Das ist sicher eine Herausforderung, doch nicht alle Rechtspopulisten sind gleichermaßen schädlich. Es gibt im Europaparlament harte Rechtsradikale mit menschenverachtenden Ansichten, aber auch andere rechte Gruppen, die je nach Thema durchaus konstruktiv mitarbeiten. Die Frage ist, warum für Grüne, Linke oder auch Liberale in manchen Mitgliedstaaten die Unterstützung wegbricht. In dieser Lage sollten sich die Parteien mit ihrer eigenen Performance selbstkritisch auseinandersetzen und sich ehrlich fragen, ob sie die Bedürfnisse der Wähler verstanden haben und wie sie Wähler zurückholen können.

Werden Mehrheiten ohne Rechtsextreme noch möglich sein?

Aus heutiger Sicht - Stand März - wird eine Koalition aus drei demokratischen Parteien möglich sein: der EVP, der sozialdemokratischen Fraktion S&D und der „Renew Europe“-Gruppe. Die Kräfteverhältnisse zwischen diesen dreien können sich natürlich verschieben. Wird die Mehrheit sehr knapp, könnte einer der Koalitionspartner große Zugeständnisse von den anderen verlangen. Da gibt es ein Erpressungspotential.

Was ist, wenn Rechtspopulisten tatsächlich 30 Mandate mehr erhalten als bisher?

Das wird im Europaparlament keine direkten massiven Folgen haben. Das größere Risiko ist meiner Meinung nach der Einfluss rechtspopulistischer Regierungen mancher Mitgliedstaaten auf die Entscheidungen des EU-Ministerrats. Das könnte Folgen zum Beispiel für die Migrationspolitik haben. Diese Regierungen werden sicherlich auf eine restriktivere Politik pochen. Aber, je nach Land und Partei, könnte es auch Auswirkungen auf die innereuropäische Solidarität mit Blick auf Staatsschulden haben, und es könnte die Unterstützung für die Klimapolitik der EU wegbrechen.

Autorin: Britta Schlüter
Redaktion: Michèle Weber (FNR)

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