Wegen der Zunahme von Antisemitismus und einer wachsenden gesellschaftlichen Polarisierung sieht die Sozialwissenschaftlerin Anastassia Pletoukhina jüdisches Leben in Deutschland bedroht. Antisemitismus sei nicht nur "an den Rändern der Gesellschaft" zu verorten, sondern inzwischen "in ihrer Mitte angekommen", sagte die jüdische Bildungsexpertin im Gespräch mit der Nachrichtenagentur AFP. Zugleich befinde sich die Gesellschaft insgesamt "an einem heiklen Punkt".

"Sollten Pluralität, Diversität, Stimmenvielfalt und Dialog in unserer Demokratie verlorengehen, dann hat auch die jüdische Gemeinschaft hierzulande keine Perspektive", sagte Pletoukhina, die als Kind als Kontingentflüchtling nach Deutschland kam.

Derzeit leitet sie bei der Jewish Agency in Berlin die Bildungsprojekte Nevatim und InstaJews für jüdische Sichtbarkeit und Diversität in Deutschland. "Wenn Deutschland es schafft, seine demokratischen Werte zu bewahren, dann haben wir eine Chance auch auf die Fortsetzung jüdischen Lebens", sagte die 39-Jährige.

Aber mittlerweile gehöre Antisemitismus "mit Stickern wie 'Globalize the Intifada' zum Straßenbild". Aus ihrer Projekt- und Dialogarbeit werde deutlich, dass viele Juden "eine wiederbelebte Allianz aus islamistischen Extremisten und der Linken" als besonders bedrohlich empfänden.

Seit zwei Jahren werde diese Verbindung auf "vermeintlich pro-palästinensischen Kundgebungen angeheizt", sagte Pletoukhina. Dabei würden die "menschenverachtenden Islamisten von der Linken als 'Freiheitskämpfer' gepriesen". Viele Jüdinnen und Juden, die in linken Kreisen zu Hause gewesen seien, fühlten sich nun "doppelt bedroht".

Auch konstatiert die Bildungsexpertin, dass es weite Teile der Gesellschaft verlernt hätten, konstruktiv miteinander zu streiten. "Das höhlt irgendwann die Demokratie aus, die ja von vielstimmigen Debatten lebt", sagte Pletoukhina, die sich als Vorsitzende des jüdischen Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerks im Dialog mit anderen Religionen und Kulturen engagiert.

"Wir leben in einer sehr schwierigen Zeit der sozialen Spaltung, der Polarisierung, der Verunsicherung." Minderheiten wie Juden und Muslime bekämen dies "als Erste zu spüren". Die ohnehin kleine jüdische Minderheit mit ihren geschätzt 200.000 Angehörigen in der Bundesrepublik werde immer weiter aus der Öffentlichkeit gedrängt, etwa in Universitäten und im Kulturbetrieb.

Bereits vor dem Hamas-Angriff auf Israel am 7. Oktober 2023 habe es "mit einer erschreckenden Regelmäßigkeit" antijüdische Angriffe in Deutschland gegeben. Aber in den vergangenen zwei Jahren sei die Häufigkeit solcher Vorfälle noch einmal "massiv gestiegen". Zur Zielscheibe würden dabei auch Muslime, die sich mit Juden solidarisch erklärten, sagte Pletoukhina. Von den Behörden erwarte sie, dass der Gesetzesrahmen bei der Strafverfolgung konsequent ausgeschöpft wird, etwa bei Hasskriminalität im Netz.

Laut dem Jahresbericht des Bundesverbands der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (Rias) erreichten die antisemitischen Vorfälle 2024 einen Höchststand seit Beginn der Erfassung. Die Zahl stieg massiv auf 8627 Fälle an - ein Plus von 77 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.

Noch sehe sie selbst eine Zukunft für Juden in Deutschland, sagte Pletoukhina. "Aber viele tun es nicht mehr." Dies belegten unter anderem die "rasant gestiegenen Anträge auf Einwanderung nach Israel" bei der Jewish Agency. Diese Menschen wollten in ein Land ausreisen, in dem es "alles andere als sicher ist - aber offenbar sicherer als hier in Deutschland".