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Dieser Artikel ist eine leicht angepasste Version eines Artikels, der auf Luxemburgisch in unserer Rubrik Mr Science veröffentlicht wurde.
Alle Jahre wieder wird über den Sinn oder Unsinn von Schulnoten gestritten. Warum gibt es eigentlich Schulnoten?
Bildungsforscher unterscheiden fünf Hauptfunktionen von Schulnoten: Sie geben den Schülern Rückmeldung über ihren Lernerfolg und dokumentieren den Lernstand. Zensuren sollen Schüler außerdem zur Anstrengung motivieren. Sie entscheiden mit über Bildungs- und Karrierewege. Und außerdem gewöhnen sich Schüler dank Schulnoten daran, bewertet zu werden (Lerche, 2023; George et al., 2019).
Dazu muss man aber wissen, dass Schüler in Luxemburg je nach Schulart ganz unterschiedlich bewertet werden: In den Grundschulen gibt es seit einigen Jahren keine klassischen Ziffernnoten mehr. Stattdessen arbeiten die Lehrkräfte mit Kompetenzrastern, Rückmeldegesprächen und Buchstabenbewertungen – von A+ bis D. In der Sekundarstufe hingegen gilt in der Regel noch das klassische Notensystem mit maximal 60-Punkten.
Erfüllen Noten die fünf Aufgaben denn gut?
Nur teilweise. Wenn es darum geht, Schüler zu vergleichen oder über Bildungswege mitzuentscheiden, erfüllen klassische Notensysteme – wie das 60-Punkte-Modell in Luxemburgs Sekundarstufe – eine gewisse Steuerungsfunktion. Doch beim eigentlichen Lernen stoßen sie schnell an ihre Grenzen.
Die genannten fünf Funktionen beziehen sich in erster Linie auf sogenannte summative Bewertung – also die abschließende Beurteilung am Ende eines Tests, einer Prüfung oder eines Schuljahres. Dabei wird eine ganze Leistung mit einer einzigen Zahl zusammengefasst. Für gutes Lernen aber braucht es etwas anderes: formatives Feedback – also Hinweise, was gut läuft und wo man besser werden kann. Und genau das kommt im Notenalltag oft zu kurz. Ein „36 von 60 Punkten“ sagt wenig darüber aus, wie man sich verbessern könnte (Lerche, 2023).
Ein weiteres Dilemma: Lehrkräfte sollen fördern – und gleichzeitig bewerten. Doch wenn Schüler wissen, dass am Ende ohnehin eine Note steht, lernen manche nicht fürs Verstehen, sondern für den Schnitt. Und eine schlechte Note wirkt für viele nicht wie eine Hilfe, sondern wie ein Urteil. Einige ziehen sich dann zurück, statt weiterzulernen (Fischbach, 2012).
Und wie zuverlässig sind Noten?
Schulnoten wirken ja sehr objektiv. 36 Punkte, das klingt exakt. Aber sie hängen oft davon ab, wie streng oder wohlwollend eine Lehrkraft bewertet. Und verschiedene Lehrpersonen vergeben teils für dieselbe Arbeit sehr unterschiedliche Noten. Selbst eine einzelne Lehrkraft kann je nach Tagesform anders bewerten. Noten sind also nicht objektiv (Brügelmann, 2006).
Auch die Zusammensetzung der Klasse spielt eine Rolle: Wer in einer leistungsstarken Gruppe sitzt, bekommt für dieselbe Leistung oft eine schlechtere Note (
Warum halten wir dann so hartnäckig an Noten fest?
Weil sie bei aller Kritik einen praktischen Nutzen haben. Noten helfen dabei, Entscheidungen zu treffen – etwa: Wer darf an einer Universität studieren? Wer bekommt ein Stipendium? In einer Welt mit begrenzten Plätzen braucht es Auswahlkriterien – und Noten sind dafür nach wie vor das einfachste Mittel (George et al., 2019). Sie lassen sich
Gibt es bessere Alternativen als Noten, um Schulleistungen zu bewerten?
Ja – Luxemburgs Grundschulen gehen schon andere Wege. Dort wird mit sogenannten
Und was heißt das jetzt – Noten abschaffen oder nicht?
Die Frage muss eigentlich anders lauten: Wie gehen wir mit Noten um – und was erwarten wir von ihnen? Noten sind weder perfekt noch objektiv. Sie sollten nicht das Maß aller Dinge sein, aber sie sind auch nicht völlig überflüssig. Im Verbund mit differenzierter Rückmeldung, individueller Förderung und echtem Lernfortschritt können sie sinnvoll sein.
In Luxemburg wird genau daran gearbeitet: Die Grundschule setzt auf ein differenziertes, kompetenzorientiertes System – doch in der Sekundarstufe kehrt mit dem 60-Punkte-System meistens die klassische Note zurück. Wie gut Kinder und Jugendliche diesen Übergang tatsächlich bewältigen, ist eine andere spannende Frage für die Bildungsforschung.
Summativ oder formativ – worin liegt der Unterschied?
Wenn Lehrkräfte am Ende eines Tests oder auf dem Zeugnis eine Punktzahl oder Note vergeben, spricht man von summativer Bewertung. Sie soll zeigen, was jemand in einem bestimmten Moment kann – und wird oft zur Auswahl oder Einstufung genutzt. Ganz anders die formative Rückmeldung: Sie begleitet den Lernprozess, gibt Hinweise, wie man sich verbessern kann, und hilft dabei, das eigene Lernen besser einzuschätzen. Studien zeigen, dass solche Rückmeldungen für den Lernerfolg besonders wirksam sind. Ideal ist es, wenn beides zusammenspielt – doch abgesehen von den luxemburgischen Grundschulen dominiert im Alltag meist die summative Bewertung.
Autor: Hannes Schlender (scienceRELATIONS)
Redaktion: Linda Wampach, Jean-Paul Bertemes, Michèle Weber (FNR)
Infobox
Brügelmann, H. (2006). Sind Noten nützlich - und nötig? Ziffernzensuren und ihre Alternativen im empirischen Vergleich. Eine Expertise der Arbeitsgruppe Primarstufe an der Universität Siegen im Auftrag des Grundschulverbands e. V., Frankfurt (Kurzfassung) - In: Bartnitzky, Horst [Hrsg.]; Brügelmann, Hans [Hrsg.]; Hecker, Ulrich [Hrsg.]; Schönknecht, Gudrun [Hrsg.]: Pädagogische Leistungskultur. Frankfurt am Main: Grundschulverband - Arbeitskreis Grundschule e.V. 2006, S. 17-46 - URN: urn:nbn:de:0111-pedocs-176284 - DOI: 10.25656/01:17628
Fischbach, A. (2012). Educational Assessment – Two Sides of the Same Coin [Dissertation]. Universität des Saarlandes.
Fischbach, A. (2025), mündliches Interview am 16.6.2025
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